Der optimierte Moment

Warum uns das Im-Moment-Sein Stress machen kann

Rausgelesen aus "Glücksstress - Ohne Druck zufrieden leben"

 

Willkommen bei den „Kontrollitikern“, den netten Leuten von nebenan, die ihr Glück stets in der Hand haben und alles optimieren wollen:

 

 

Kontrollitiker sind ständig auf der Suche nach einem weiteren „Bliss Point“. So nennen Lebensmittelingenieure den Punkt der maximalen Aktivierung des Belohnungszentrums im Gehirn bei der Verkostung von Lebensmittelproben.

Den Kontrollitiker verlangt es nach Erlebnissen, die ihn immer wieder an seinen Erlebnis-Bliss Point führen, wörtlich: den Punkt der Seligkeit. Er glaubt, das wiederholte Erreichen dieses Punktes könne er durch sein Eingreifen herbeiführen, er könne sogar den Zeitpunkt bestimmen und am Ende auch die Intensität des Erlebnisses. Denn darum geht es: möglichst intensive Erlebnisse zu haben, je intensiver, desto größer der Nutzen. So ist der Kontrollitiker gleichzeitig ein Selbstoptimierer, der das Trittsteinhüpfen von Bliss Point zu Bliss Point selbst steuern will.

 

Gerade dort, wo wir aufgefordert werden „ganz im Moment zu sein“, um „tiefe innere Zufriedenheit zu finden“, ist der Druck des Machwahns groß. Der Moment, in dem wir gerade leben, ist in der Regel eben leider nicht der zufriedenstellendste, spannendste oder gelingendste. Meistens „kommt einem die Gegenwart blass vor, sodass man fruchtlos und ermüdend an Vergangenheit und Zukunft herumzupft“, schreibt Eva Menasse in ihrem Roman „Quasikristalle“ (S. 216). Die Gegenwart ist ein winziger Punkt, fast nicht zu greifen außer in künstlichen Ausnahmesituationen. Wenn Sie sich zum Beispiel in eine tiefe Meditation begeben oder in einer Tätigkeit sehr konzentriert versunken sind, haben Sie den Eindruck, von nichts als der Gegenwart erfasst zu sein, Vergangenes und Zukünftiges gleitet einfach vorbei. Das sind jedoch Situationen, die im Alltag selten vorkommen. Dort sind wir Vergangenheit und Zukunft: Vergangenheit, weil vergangene Ereignisse unsere Identität ausmachen, und Zukunft, weil zukünftig mögliche Ereignisse unsere Aufmerksamkeit an sich ziehen. Und das ist auch nicht schlimm. Schlimmer ist es, sich durch die Selbstverpflichtung, man müsse vollkommen fokussiert auf den Moment sein, zusätzlichen Stress zu schaffen.

 

Das Problem mit den „Momenten“ ist nicht, dass wir zu wenige davon hätten, sondern dass wir sie gar nicht genug an uns heranlassen. Dafür sind wir dank der Kontrollitis gar nicht offen und bereit genug. Der Moment könnte ja etwas beinhalten, das uns nicht schmeckt, das unkontrollierbar oder unvorhersehbar ist. Momente ja, aber nur, wenn alles darin einem „um zu“ untergeordnet ist: um mir zu gefallen, um mich glücklich zu machen, um mich zu entspannen, und so weiter. Der Appell, „alle Sinne zu benutzen“, um „intensiv zu leben“ ist so nichts als eine überreizte Reaktion auf den hypochondrischen Eindruck fehlender Lebendigkeit: zu wenig Zeit, zu viel Stress, zu unüberschaubare Anforderungen allenthalben – und mein Leben bleibt auf der Strecke.

 

Das Paradoxe an diesem Appell: Da wird erwartet, dass wir dauernd erleben, genießen, im Moment sind. Die Voraussetzungen dafür fehlen uns aber. Eine Form des Lernens intensiver Wahrnehmung hat diese Gesellschaft nämlich nie entwickelt. Weder gibt es eine breite Tradition des gelassenen Genusses, die den Kindern in den Familien weitergegeben würde, noch taucht die Kunst des Wahrnehmens im Unterrichtskanon der allgemeinbildenden Schulen auf. Ich muss also etwas tun, das ich von meiner Sozialisation her gar nicht können kann. Die Fähigkeit dazu muss ich mir schon selbst erwerben – eine weitere Anforderung, die ich auf eigene Rechnung erfüllen muss.

 

Keineswegs fehlen uns die Quellen für Genuss. Was uns fehlt, beobachtet der Philosoph Robert Pfaller, ist die Fähigkeit, die Genussressourcen zu nutzen. Und das läge auch an einer Verkrümmung unserer Perspektive auf das Leben.

 

Statt zu fragen, wofür wir leben, fragen wir uns nur noch, wie wir möglichst lange leben beziehungsweise überleben können – gemäß nunmehr völlig fraglos verabsolutierten Prinzipien wie Gesundheit, Sicherheit, Nachhaltigkeit und – vor allem – Kosteneffizienz.“ (Pfaller „Wofür es sich zu leben lohnt“, S. 18)

 

Kein Wunder, wenn einem die Gegenwart weiter „blass vorkommt“. „Wenn die Gegenwart jedoch aufglüht“, so Eva Menasse in „Quasikristalle“, „dann sollte man sich ihr überlassen“ (S. 216). Wann glüht die Gegenwart auf? Kaum, wenn wir sie glühen machen. Das Glühen, das Menasse meint, ist der Moment, der uns geschieht, ein Zufall, der die Gegenwart leuchten lässt, bevor es von selbst wieder dunkler wird. Die Lichtquelle bleibt uns unbekannt. Gerade darin liegt ihre Fähigkeit zur Verzauberung. Unser Unwissen macht den magischen Moment erst möglich. Was uns bleibt, ist, dem Augenblick zu folgen und uns seine Wärme so gut es geht anzueignen.

 

 

Ein Ausschnitt aus meinem Buch „Glücksstress – Ohne Druck zufrieden leben“, das gerade im Hanser-Verlag erschienen ist.

 

Mehr zum Buch hier auf der Verlagsseite.

 

Der Autor

Peter Plöger ist seit über einem Jahrzehnt Berufe-Entdecker, Orientierer und Autor und staunt darüber, dass die Freude daran immer noch wächst.

In seinen Büchern und in seinen Projekten ( z. B. „Why we work“ - www.whywework.de) kümmert er sich darum, dass Menschen ihr Gutes Leben finden – unter anderem in dem Beruf, der wirklich der richtige für sie ist.

Peter Plöger auf Facebook.

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